Die Reise

Essay von Julia Reineke aus dem „Feministischen Schreibworkshop“ im writers´studio.

Es ist ein Sonntagnachmittag und wir haben Waffeln gegessen. „Jetzt“, denke ich, „du musst es jetzt sagen.“
Meine Stimme zittert vor Aufregung, vor meinen eigenen Kindern, als ich sage: “Ich werde für fünfeinhalb Wochen nach Wien gehen.“ Es fühlt sich an, als sagte ich: Ich werde euch verlassen.

Die ganze Zeit über, es sind noch Wochen bis zur Abreise, kommen mir Tränen, sobald ich mir den Abschied ausmale. Mein Herz sinkt zu Boden und eine schwere Traurigkeit legt sich darauf. Der Entschluss steht fest, das Zimmer ist gebucht, der Feministische Schreibworkshop bezahlt. Es gibt kein Zurück. Was habe ich mir dabei gedacht? Das ganze Vorhaben wird immer mehr zur absurden Idee. Wo sind die Gefühle hin, die mich diese Entscheidung haben treffen lassen? Die Wut auf alles und jeden, weil alles so ist, wie es ist. Das starke Bedürfnis, alleine sein zu wollen. Der Wunsch nach mehr Selbständigkeit.

In schwachen Momenten begraben unter der Angst, an der Aufgabe zu scheitern, meinen Weg zu gehen. Unterdrückt aus Angst davor, eine schlechte Mutter zu sein. Niedergetrampelt von Kommentaren wie die meiner Frauenärztin, die mich fragte, ob ich das wirklich könne? „Und die Kinder?“, fragte sie und schaute mich zweifelnd an. „Die sind groß, Teenager,“ erwiderte ich und sank in mich ein.

 

Was ich brauchte war Ermutigung, denn ich fürchtete mich so sehr vor meinem eigenen Entschluss und der Abreise. Diese Ermutigung bekam ich von anderen Frauen und Freundinnen und sie hat mich bis zu dem Moment getragen, als ich in Dresden in den Zug stieg. Eine letzte Umarmung, Tränen, die Stufen hinauf, es war geschafft.

Ohne die mutmachenden Worte und guten Wünsche hätte ich vermutlich nicht durchgehalten, dafür bin ich sehr dankbar.

Mit Ausnahme meiner Frauenärztin haben alle Frauen um mich herum begeistert reagiert und mich unterstützt, auch meine Mutter. Obwohl sie sich nicht den Kommentar verkneifen konnte, wie toll es von S. wäre, dass er das mitmache. Aha! Also wenn ich alle beruflichen Reisen  zusammenzähle, wegen derer mein Mann von zu Hause weg war, dann müsste ich Monate wegbleiben. Hat je jemand gesagt, wie toll das ist, dass ich das mitgemacht habe? Und warum fühle ich mich, als würde ich meine Familie verlassen und Männer, Väter gehen einfach auf Dienstreise oder fahren zu einem Kongress? Warum ist es für Frauen so furchtbar schwer, ihren Weg zu gehen und somit frei zu sein?

Zwei meiner Freundinnen haben die Idee, auch für eine Zeit wegzufahren, ihren Kindern unterbreitet und wurden beide Male angefleht, es nicht zu tun. Und beide Male war der Grund, dass die Kinder nicht alleine beim Vater bleiben wollen. Wie soll man so für sich selbst als Frau freie Entscheidungen treffen? Woher kommt diese Unfreiheit?

Viele Männer und Väter sehen diese Unfreiheit nicht, denn sie wollen ihre eigene Freiheit nicht als Privileg akzeptieren, es würde sie angreifbar machen. Deshalb ist auch die Behauptung, wir seien doch alle längst gleichberechtigt, schlichtweg eine Lüge und vergisst etwas ganz Entscheidendes: die Gleichberechtigung des Mannes in der Kindererziehung.

 

Ich habe das große Glück, dass mein Mann und meine Kinder mich unterstützen. Meine ältere Tochter meinte nur: „Also, wenn du Lust drauf hast, dann mach‘ das!“, und die jüngere bemerkte, dass Heimweh auch dazugehöre. Wie recht sie hatten.

Nun sitze ich also im Zug und denke an all das zurück. Der Abschied ist geschafft, und am meisten schockiert mich, dass er nicht so schwer war, wie gedacht. Erleichterung macht sich breit, Vorfreude. Darf ich das fühlen?

Das aus dieser Frage entspringende Schuldgefühl, so werde ich in den kommenden Wochen merken, bleibt gegenwärtig. Ich werde dagegen ankämpfen, ich werde mir mein Recht auf Glücklichsein immer wieder selbst vorsagen. Und ich werde immer wieder daran denken müssen, dass Männer meist ohne Schuldgefühle ihren Weg gehen.

Als ich mit großem Koffer am Wiener HBF schnurstracks zur U-Bahn laufe, fühle ich mich unglaublich stark. Ich habe es geschafft!

Manches hier würde ich gerne meinen Kindern zeigen, aber in meinem Zimmer möchte ich dennoch allein sein. Es ist eine Aufgabe für mich, allein zu sein und keine Aufgabe mehr zu haben. Keine Verantwortung. Wer bin ich ohne diese Verantwortung? Auf einmal ist da unglaublich viel Zeit und unglaublich viel Ich. Es geht nur noch um mich. Was esse ich, wo esse ich, wann gehe ich schlafen? Es ist neu und anstrengend, es ist keine freudige Urlaubsreise, auf der ich mich befinde, es ist eine Reise zu mir als Mensch und Frau. Ich mache diese Reise für mich, für meine Töchter, für meine Freundinnen und alle anderen Frauen und Mütter. Ich mache diese Reise, um mir zu beweisen, dass ich es kann ­– frei sein.

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